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„Die Demokratie muss lebendig bleiben": 100 Jahre Politik auf drei Stühlen

„I’m dreaming me away“, mit diesem Vers endet der selbst geschriebene Song der Schülerinnen und Schüler, die mit ihrem Mix aus englischen, französischen und japanischen Zeilen Krieg und Angst als Themen von Politik und Demokratie besingen. Die Schülerinnen und Schüler der Max-Brauer-Schule eröffneten die Politikergesprächsrunde am Donnerstagabend mit ihrer Kunst. An den Bildern, die hinter ihnen die Bühne erhellen, bemerkt man bereits, wie wichtig ihnen das politische Leitmotiv des Friedens ist: Es sind Bilder vom Kosovo, von Atompilzen und Kindern, die verzweifelt versuchen, einen Panzer auf Abstand zu halten. Eine gelungene Einstimmung und auch eine mögliche Antwort auf die Frage: „Warum eigentlich Demokratie?“.

Politikergespräch - Bild 1

Lernstatt-Leute als Moderatoren: ein gelingender Einstieg

Die beiden Lernstatt-Teilnehmern Saskia Leufert und Christian Abelmann – zwei Abiturienten aus dem beruflichen Schulzentrum an der Walliser Straße – führten, unterstützt von Peter Fauser, Schulpädagoge  aus Jena und zugleich wissenschaftlicher Leiter von „Demokratisch Handeln“, gut vorbereitet und zielbezogen durch die Diskussion.

Hildegard Hamm-Brücher, Christa Goetsch und Freimut Duve waren als Gäste gekommen: zusammen 100 Jahre politischer Erfahrung und politischer Praxis. Das sind zugleich große Namen, denen erst eine ausgiebige Vorstellungsrunde gebührte: Auf die Frage an Hildegard Hamm-Brücher, einer der Gründerinnen des Programms Demokratisch Handeln, warum sie in die Politik gegangen sei, bekannte sie sich entschieden als Gegnerin des Nationalsozialismus – die Erfahrung des menschenverachtenden Totalitarismus und Faschismus in Deutschland ist ihr Leitmotiv für ihr demokratisches Engagement! Ihr war es wichtig, Krieg, Rassismus und Militarismus in der deutschen Politik nach Hitler dauerhaft zu beseitigen und ein politisches System, in dem es „kontrollier- und veränderbare Machtmehrheiten“ gibt zu etablieren. Die promovierte Chemikerin, die 1921 in Essen geboren wurde und früh ihre vier Geschwister großziehen musste, ist nicht nur für Moderator Christian Abelmann eine richtige „Powerfrau“. Neben anschaulichen Schilderungen aus ihrer Lebensgeschichte – mit denen sie die Zuhörerschaft bisweilen zum Schmunzeln brachte – wunderte sich die 85-jährige „das heut soviel Gedöns darum gemacht wird“, dass Frauen Kinder und Karriere unter einen Hut bringen wollen.

Christa Goetsch, die hier als „Karrierefrau mit Herz“ portraitiert wurde, sieht „gute Chancen für die Kinder von morgen“ vor allem mit einem neuen Schulsystem verbunden. Statt der alten, dreigliedrigen rückt sie neue differenzierende und lernförderliche Schulstrukturen in den Mittelpunkt. Ginge es nach ihr, würde keine „soziale Auslese“ mehr stattfinden und die Kinder würden vom Anfang bis zum Ende der Schulzeit in einer Klasse bleiben. „Deutsch für Migranten“ und „fördern und fordern“ sind politische Ansprüche von Christa Goetsch und von den Grünen.

Die Problematik der Gastarbeiter in den sechziger Jahren skizzierte der Sozialdemokrat Freimut Duve als wichtiges Motiv für seinen Wechsel von der Journalistik in die Politik. Auch er unterstützt den Vorschlag einer durchgängigen Schülerlaufbahn ohne Brüche und Schulart-Auslese. Einig sind sich die drei darin, dass gesellschaftlicher und technischer Fortschritt keinesfalls auf Kosten von Kindern und Bildung gehen darf.

„Warum eigentlich Demokratie?“ – Föderalismus statt Gemeinschaftsaufgaben

„Demokratie muss gelernt und gelebt werden“, erklärt Christa Goetsch. Seit 1993 unterstützt sie die Hamburger Bürgerschafts-Initiative „Jugend im Parlament“ und fordert ein kommunales Wahlrecht ab 16. Hildegard Hamm-Brücher betont, dass Erziehung zur Verantwortung bisweilen vernachlässigt werde. Da auch die Partizipation über die SV/SMV nur wenige aus der Schülerschaft erreicht, liege ihr soviel an den Projekten des Wettbewerbs „Demokratisch Handeln“. Programme fördern und stärken, „bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist“, und nicht nur Aufwachen wenn was passiert, das sind ihre handlungsleitenden Motive. Hamm-Brücher sieht Bildung als eine gesamtstaatliche Aufgabe und zeigt sich als entschiedene Gegnerin der Konsequenzen, die für Schule aus der gegenwärtig verhandelten Föderalismusreform resultieren. Denn dort soll das Verfassungsinstrument der „Gemeinschaftsaufgabe“ bei Bildungsplanung und Forschungsförderung – eines ihrer politischen Ziehkinder – abgeschafft und durch ein „Kooperationsverbot“ ersetzt werden. Sie befürchtet in der Folge eine Schwächung der politischen Aufgaben von Schule, Bildung und Erziehung, wenn das wieder nur die Länder gestalten: Ein „Rückfall“ in alte Zeiten, so Hamm-Brücher wörtlich!

Für Veränderung ist auch Freimut Duve, allerdings weist der Politiker ebenso auf die „Prägung durch die deutsche Geschichte als nicht zentralistischer Staat“ hin, er ist wie er selbst sagt ein „überzeugter Föderalist“. Christa Goetsch sieht die Sache ähnlich wie Hamm-Brücher: Föderalismus, Bildung, Katastrophe, das kommt hier in einem Atemzug.

Die große Politik: Das Gewissen des Abgeordneten

Jetzt zogen die Moderatoren den Themenkreis größer. Nach Fraktionszwang und dem Gewissensentscheid als Abgeordneter wurde gefragt. Duve, der selbst häufig Artikel 38 des Grundgesetzes beansprucht hat (der Abgeordnete ist in seinen Entscheidungen seinem Gewissen unterworfen), weiß wovon er redet. Es sei zwar wichtig, für sich selbst zu entscheiden, doch sollte man seine Gründe für Ablehnung oder Zustimmung seinen Fraktionskollegen deutlich machen. Hildegard Hamm-Brücher verurteilt den Fraktionszwang, auch wenn sie eine Grundloyalität zur Partei akzeptiert: „Man muss lernen, Kröten zu schlucken ohne selber eine Kröte zu werden“. Laut Hamm-Brücher gereicht es einem Parlament zur Ehre, wenn Abgeordnete frei nach ihrem Gewissen entscheiden, auf die Gefahr hin, sich nicht nur Freunde zu machen. Gegen Ende der Diskussion kam das Gespräch noch auf aktuelle Themen in Politik und Gesellschaft. Freimut Duve hofft vor allem, dass in der recht heterogenen EU-Gemeinschaft die Pflichten und Rechte ausdefiniert werden und die gegenseitige Verantwortung wächst. Christa Goetsch fürchtet die immer weiter auseinander klaffende soziale Schere zwischen Arm und Reich. Eine andere Bildungspolitik beschäftigt sie eben so wie die Chancen für Hamburg als Einwanderungsstadt. Beteiligung stärken und Polarisierung vermeiden, das ist die Summa für Hildegard Hamm-Brücher, denn „Demokratie muss lebendig bleiben“. Niemand hätte das besser formulieren können.

(Katharina Dellbrügger, ConvoS Soest)

12.06.2006 (MF)

Politikergespräch - Bild 2

Politikergespräch - Bild 3

Politikergespräch - Bild 4

 
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