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Filmprojekt "Wo ist Sinbad?"

Ein Projekt der Hauptschule Coerde, Städtische Gemeinschaftsschule, Dachsleite 32-36, 48157 Münster (NW)

Als die Klasse 6a der Hauptschule Coerde in Münster zu einer Klassenfahrt aufbricht, fehlt ein Mitschüler: Sinbad. Einen Tag zuvor war er noch in der Schule. Auch als die Klasse von der Fahrt zurückkehrt, fehlt von dem vermissten Mitschüler aus dem ehemaligen Jugoslawien jede Spur.

Niemand, weder Lehrerinnen und Lehrer noch Schülerinnen und Schüler, haben eine Ahnung, wo Sinbad steckt und warum er so plötzlich der Schule fern bleibt. Doch langsam breitet sich die Information aus, dass Sinbads Familie untergetaucht sei. Sie habe einen Brief bekommen, in dem sie dazu aufgefordert wurde, binnen drei Wochen in ihre „Heimat“, den Kosovo, zurückzukehren. Lehrer wie Schüler zeigen Verständnis. Wenn man wie Sinbad in Deutschland geboren wurde und in die Klasse integriert ist, wer würde da nicht auch untertauchen, um der Gefahr der Abschiebung zu entgehen, um nicht von der eigentlichen neuen Heimat weggehen zu müssen?

Ein Mitschüler fehlt – was können wir daran lernen?

Klassenlehrerin Kirsten Sünneker nimmt das Verschwinden von Sinbad und das Untertauchen der Familie zum Anlass, die gegenwärtige politische Praxis der Duldung und Abschiebung von Asylbewerbern sowie Ausländern in Deutschland als Thema in der Schule aufzugreifen. Dieser Themenvorschlag stößt bei Sinbads Mitschülerinnen und Mitschülern auf großes Interesse. Alle wollen verstehen und mehr darüber erfahren, was passiert ist. „Wir suchten ihn und wollten wissen, wo er ist und warum er gegangen ist, ohne sich von uns zu verabschieden“, beschreibt Romina Grauert, Schülerin der Klasse 6a, die damalige Situation.

So wird in der Projektwoche der Schule ein Projekt angeboten, in dem Schülerinnen und Schüler der Klasse 6a der Frage nachgehen, „warum Kinder, die in Deutschland geboren sind, plötzlich in ein Land müssen, welches nicht ihre Heimat ist“, wie sie es formulieren. Die in diesem Projekt gewonnenen Erkenntnisse werden in einer Ausstellung aufgearbeitet und beim Schulfest der Hauptschule präsentiert.

Die Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler mit den persönlichen Schicksalen geduldeter und von Abschiebung bedrohter Menschen in Deutschland motiviert dazu, die Ausstellung in einem fächerübergreifenden Filmprojekt erneut aufzuarbeiten. Immerhin verfügt die Schule Coerde über eine eigene Videowerkstatt. Mit Unterstützung der Klassenlehrerin Kirsten Sünneker, dem Klassenlehrer Michael Ridder und dem Schulsozialpädagogen Peter Voß erarbeiten die Schülerinnen und Schüler daraufhin binnen eines halben Jahres ein Drehbuch. Als das Drehbuch fertig gestellt ist, geht es an die Verfilmung. Mit Hilfe des Medienpädagogen Wilfried Brüning und mit Unterstützung durch das AWO Stadtteilbüro Coerde entscheiden die Schülerinnen und Schüler größtenteils selbst, wie sie die Ursachen für Sinbads Verschwinden nachzeichnen und so an einem konkreten Fall das Thema Duldung und Abschiebung filmisch darstellen wollen. Sie befragen auch Experten, unter anderem Angestellte des Ausländeramts, zu migrationspolitischen Angelegenheiten.

Für die Umsetzung des Drehbuchs sind ursprünglich fünf Tage geplant. Da diese aber nicht ausreichen, muss ein zusätzlicher Drehtag aufgewendet werden. Aus den zwanzig Stunden Material wird schließlich ein Film von zwanzig Minuten Länge geschnitten.

Gast, Asylbewerber, Gedulteter? Ein Filmprojekt entsteht!

Die Beschäftigung mit dem Schicksal Sinbads sensibilisiert die Schülerinnen und Schüler der Klasse für die sozialen Probleme ausländischer Mitschüler und Mitbürger. Projektteilnehmer Dennis Therling und Karina Großmann finden es „einfach bescheuert“, dass Menschen, die von Anfang an in Deutschland leben, abgeschoben werden, obwohl sie hier bleiben wollen. Wenn man wie Sinbad in Deutschland geboren sei und 13 Jahre hier gelebt habe, sei doch Deutschland die Heimat. Wenn man dann einen Brief bekomme des Inhalts, man solle in ein letztlich unbekanntes Land, sei das „schon ein Schock“, macht der Schüler Nico Kaier deutlich. Abschiebung „sollte es gar nicht geben“, meint Mitschülerin Romina Grauert.

Den Sechstklässlern liegt viel daran, die Öffentlichkeit über diese Problematik zu informieren und ihren Film anderen Jugendlichen und Erwachsenen vorzustellen. Mitte Dezember 2005 feiert der Film „Wo ist Sinbad?“ Premiere in der Hauptschule Coerde. Danach wird er auch in anderen Schulen und außerschulischen Institutionen gezeigt, erzählt Nico. Die Zuschauerinnen du Zuschauer sind dabei begeistert und stellen viele Fragen, ergänzt Romina. Darüber hinaus schreibt die Klasse einen Brief an den deutschen Innenminister in Berlin, in dem die Schülerinnen und Schüler ihre Sichtweise der Abschiebeproblematik darlegen.

Anerkennung und Auszeichnung

Der Kurzfilm wird auch bei Schülerwettbewerben eingereicht und erhält Preise und Auszeichnungen. So können sich die Projektbeteiligten zunächst über eine „Lobende Erwähnung“ beim Jugendmedienfestival im Mai 2006 in Berlin freuen. Die Jury des Victor-Klemperer-Jugendwettbewerbs „Kreativ für Toleranz“ spricht in Frankfurt am Main im Juni 2006 dem Kurzdokumentarfilm eine „Besondere Anerkennung für das Engagement“ aus. Die besonders sensible Bearbeitung des Themas Duldung und Abschiebung in Deutschland wird im August 2006 sogar mit dem 1. Preis in der Kategorie Sekundarschule I im Jugendwettbewerb „demokratie leben“ der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen gewürdigt. Mit dem Hauptpreis kommt der Klasse zugleich ein Preisgeld über 3000 Euro zu. Weiterhin wird das Filmprojekt Anfang November 2006 bei den „23. video/film tagen“ in Gera (Thüringen) mit dem Sonderpreis des Kinderkanals von ARD/ZDF in der Kategorie Jugendarbeit/Schule mit einem Preisgeld von 750 Euro ausgezeichnet und von der Jury für seine medienpädagogische Pfiffigkeit gelobt.

Die Sensibilisierung für die Schicksale und Lebenslagen von Ausländer in Deutschland, die filmische Umsetzung dieses Themas, die Vorführung des selbst produzierten Films, die Reaktionen der Zuschauer, die Preise und Auszeichnungen machen einen Satz verständlich, der die Ausstellung des Projekts bei der Lernstatt Demokratie in Jena ziert: „Ein Tropfen, der ins Wasser fällt und weite Kreise zieht.“ Der Tropfen symbolisiere dabei das Weggehen Sinbads, erklärt Dennis. Dieser, so fährt er fort, ziehe weite Kreise, weil sich viele damit auseinander setzten. Eben darin bestehe das demokratische Handeln bei diesem Projekt, „dass wir kleinen Kinder auch mitmischen können mit den anderen, mit den älteren“, so Dennis weiter. So könne man immerhin „etwas Kleines bezwecken“, dass „wenigstens etwas daran geändert wird an dieser Abschiebung“. Für Romina liegt demokratisches Handeln darin, dass auch andere sehen können, „dass auch in Wirklichkeit so etwas passiert“. Jeder solle davon Bescheid wissen, so Karina. Doch es sollte „nicht nur gesagt, sondern auch getan, etwas umgesetzt werden“, so die Schülerin weiter. Demokratie bedeutet für sie, dass „jeder eine Meinung hat und zu dieser auch stehen kann.“ Demokratie bedeute auch, darin sind sich Romina, Dennis und Karina einig, dass man sich auch aufgrund unterschiedlicher Meinungen gegenseitig austausche.

Trotz des Engagements der Klasse und der großen Aufmerksamkeit für das Thema Abschiebung und Duldung bleibt das Schicksal Sinbads unklar. Man habe zwar versucht, Kontakt aufzunehmen. Jedoch habe das nicht geklappt, bedauert Nico. Mittlerweile sei sogar Latif, einer der Hauptdarsteller des Kurzfilms, mit seiner Familie untergetaucht. Für die Schülerinnen und Schüler ist deshalb klar: Es ist noch nicht genug gesagt, noch nicht genug getan worden!

Die Interviews mit Karina Großmann, Romina Grauert, Dennis Therling sowie Nico Kaier führt Veit Polowy bei der Lernstatt Demokratie am 6. Juni 2007 in Jena.

Schulhomepage zum Filmprojekt:

http://www.muenster.de/~hsnord2/Sinbad.html

Kurzdarstellung bei Demokratisch Handeln:

http://www.demokratisch-handeln.de/dh-data/show.php?id=3441

 
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