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"nachgefragt" - Gespräche am Rotteck

Ein Projekt am Rotteck Gymnasium, Lessingstraße 16, 79100 Freiburg (Baden-Württemberg)

Im Schuljahr 2005/2006 haben der Lehrer Martin Walter und ein Kollege vom Rotteck-Gymnasium in Freiburg die Idee, eine Veranstaltungsreihe mit Gesprächen zwischen prominenten Personen sowie Schülerinnen und Schülern zu veranstalten. Um zu schauen, „ob die Idee überhaupt fruchtet“, so Walter, werden Prominente angeschrieben, die aus dem Raum Freiburg stammen, auf kommunalpolitischer Ebene tätig sind oder in irgendeiner Verbindung zu Freiburg stehen. Die zurückgemeldete „unglaublich positive Resonanz“, wie es Walter ausdrückt, scheint eine funktionsfähige Veranstaltungsreihe zu versprechen.

Daraufhin machen die beiden Lehrer die Idee in der Schule bekannt und bieten Schülerinnen und Schülern einen Seminarkurs an, innerhalb dessen sie die Verantwortung für die konzeptionelle Ausgestaltung und Veranstaltung dieser Gespräche übernehmen sollen. Im Seminarkurs beraten und entscheiden die Schülerinnen und Schüler, welche Themen mit dem jeweiligen Gast besprochen und mit welchen Elementen die Veranstaltungen geprägt werden sollen.

Eines dieser Elemente, das die Schülerinnen und Schüler stets selbst vorbereiten, heißt „Angreifbar“. Dabei werden den eingeladenen Gästen Säckchen vorlegt, „in denen Gegenstände drin sind, die mit den Personen zu tun haben“, erklärt Walter. Über diese angreifbaren Dinge werden von den Gästen sehr persönliche Dinge abgefragt. „Es soll auch angreifend sein“, ergänzt der Lehrer.

Felix Pistorius ist einer von 14 Schülerinnen und Schülern im Freiburger Politik-Projekt. Kurz vor den Sommerferien am Ende des elften Schuljahres, setzte sich die Projektgruppe erstmals zusammen. „Wie soll der Abend aussehen? Wie gestalten wir die Bühne? Machen wir zwei Bühnen nebeneinander? Benutzen wir nur eine Bühne? Setzen wir uns? Stehen wir?“, umreißt Felix die damals die Jugendlichen bewegenden Fragen.

Als das Konzept steht, bilden die Schülerinnen und Schüler zwei Teams, um sich jeweils mit einem Prominenten zu befassen. Wer dies dann ist, entscheiden die Teams jeweils selbst. Sie bereiten sich auf „ihren“ Gast vor, befassen sich mit seiner Biografie und den von ihm vertretenen politischen Themen. Die Teams überlegen, wie die Gespräche ablaufen sollen, mit welcher Frage begonnen werden, wie in die nächsten Themen übergeleitet werden soll.

Mit Unterstützung ihrer Lehrer, des Südwestrundfunks (SWR) und der Badischen Zeitung bereiten sich die Schülerinnen und Schüler auf den ersten Abend vor. Sie stellen Überlegungen an, wie man am besten sitzt, üben Sitzhaltungen und werden rhetorisch geschult. Es kann losgehen!

Die Premiere: Der OB der Stadt im Gespräch

Die erste Veranstaltung am 9. November 2005 mit Dieter Salomon, dem Oberbürgermeister der Stadt Freiburg, hinterlässt bei Felix einen bleibenden Eindruck, „weil es die erste war“ und weil der Abend auch „ganz gut gelaufen“ sei, wie er sagt. Zu seinem „persönlichen Favoritenabend“ wird aber jener, als Wolfgang Schäuble, der Bundesinnenminister, nach Freiburg kommt. Während Felix dem Minister Schäuble „eher skeptisch“ gegenüber steht und einen „trockenen Typ“ erwartet, wirkt dieser am Gesprächsabend doch „unglaublich charismatisch und sympathisch“, wie Felix erzählt. „Damit habe ich gar nicht gerechnet“, fährt er fort, „es war ein schöner Abend mit ihm. Er war sehr freundlich. Coole Gespräche.“

Felix zeigt mit dem Finger auf ein Foto auf der Ausstellungswand. Darauf sind Wolfgang Schäuble und drei Schüler zu erkennen. Zum Ablauf eines Gesprächsabends erklärt Felix, dass jemand von der Bar kommt und Getränke auf die Bühne bringt. Dann, als Einführung, stellt jemand die Biografie des Gastes vor. Auf dem Bild ist dies Felix. Schließlich führen zwei Schüler als Moderatoren durch das Gespräch.

Die große Politik: Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble ist zu Gast

Felix ist auch noch davon beeindruckt, wie und mit welchem Sicherheitsaufgebot Schäuble zur Veranstaltung anreiste. Der Schüler berichtet: „Das Gespräch war eigentlich um 17 Uhr. Bis 15 Uhr war Schäuble aber noch in Berlin in der Beratung. Und dann ist er mit dem Hubschrauber nach Tegel geflogen, von dort mit dem Flugzeug nach Lahr, von da mit dem Hubschrauber nach Freiburg und dann mit der BKA-Eskorte zu uns. Er kam dann eine halbe Stunde zu spät. Da mussten wir uns schnell überlegen, was wir raus schmeißen, weil wir nicht so viel Zeit hatten. Danach wollte er ja noch ins SWR-Studio. Das war echt spannend.“

Die Schülerinnen und Schüler hatten Schäubles Biografie aufgearbeitet und Fragen gestellt, etwa nach seiner Jugend. Sie wollten von ihm seine Einschätzung danach wissen, ob Jugendkrawalle wie in Frankreich auch in Deutschland passieren können. Weiterhin geht es um die Bekämpfung von Terrorismus und innere Sicherheit. Fragen an Schäuble: „Inwieweit kann man in die Freiheit des einzelnen eingreifen? Welchen Stellenwert hat die Sicherheit zur persönlichen Freiheit?“, erinnert sich Martin Walter.

Auch dem Lehrer ist Schäubles Charisma noch präsent: „Er macht das natürlich professionell und lässt da auch wenig zu. Er geht auch suggestiv mit den Schülern um, so dass man kaum eine Chance hat, ihm zu widersprechen“, erzählt Walter. Schäuble meinte beispielsweise, so führt Walter aus, „es sei überhaupt kein Problem, wenn in der Kaiser-Josef-Straße in ein paar Wochen eine Kamera mehr hängt“ und vergewisserte sich beim Auditorium: „Da habt ihr doch kein Problem mit, oder?“ Es falle schon schwer, in solchen Momenten zu widersprechen, ist sich Walter bewusst. Fragen, was eigentlich mit Überwachungsdaten passiert und wie sie aufgearbeitet werden, „bügelt er in einem richtig nieder, aber mit einer sehr professionellen und sehr freundlichen Art und Weise, dass man ihm auch gar nicht böse sein kann in so einer Situation“, fährt der Lehrer fort. Aber eben solche Erlebnisse zu reflektieren, sei eine Chance über Inszenierung und Kommunikation in der Demokratie intensiv zu lernen, meint er.

Bislang waren zehn Personen des öffentlichen Lebens bei den „Gesprächen am Rotteck“ zu Gast. Neben Oberbürgermeister Dieter Salomon und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble kamen die Künstler Wolf Biermann und Günther Grass sowie namhafte Politiker wie Gernot Erler, Hans Dietrich Genscher, Gregor Gysi, Renate Künast, Annette Schavan und Peer Steinbrück zu den Gesprächsabenden. „Gernot Erler kenn ich jetzt auch persönlich“, berichtet Felix. Mit der Zeit macht die Veranstaltung auch von sich Reden. „Das ist sogar im Bundestag bei manchen Politikern bekannt geworden. Und Gysi hat dann uns gefragt“, bemerkt Felix nicht ohne ein verschmitztes Lächeln.

Was haben wir gelernt, was fangen wir mit den Ergebnissen an?

Nach Ablauf eines Gesprächs – wenn sich Erleichterung einstellt und „ein bisschen“ gefeiert wird, wie Felix beschreibt – „wird aufgearbeitet“. Meistens noch am Abend „setzen wir uns alle zusammen und besprechen, was schöne Momente waren, was nicht so gelungen war“, fährt der Schüler fort. Erst dann wird aufgeräumt. Am Tag nach dem Gesprächsabend treffen sich die Teams erneut und „besprechen das noch mal genau im Detail: Was kann man bei dem nächsten Gesprächsabend besser machen? Wo muss man aufpassen?“, fasst Felix die Nachbereitung zusammen.

Worauf man in Gesprächen mit solch professionellen Rednern aufpassen muss, wird „in der Reflexion über so ein Gespräch“ deutlich, wie Lehrer Walter meint. Daraus nehme man mehr mit als aus der Gesprächsrunde selbst. In der Rückschau lässt sich fragen: „Wie funktioniert das eigentlich, dass die Leute dermaßen professionell mit mir umgehen und dass ich gar nicht so richtig mit meinen Punkten ankomme“, so Walter. „Zu durchschauen, was da eigentlich passiert ist, weshalb man da nicht gegen gehen konnte, weshalb man da nicht noch stärker seinen Standpunkt verteidigen kann“, ist es, was nach Walters Meinung „viele aus den Gesprächen hinterher mitnehmen.“ So werde klarer, dass man an bestimmten Stellen doch hätte widersprechen können.

Darin liege schließlich auch das demokratische Handeln in diesem Projekt. Man lerne, „solchen Leuten gegenüber zu stehen und sie zu hinterfragen, zu versuchen: Wie kann ich am besten meine Sachen durchsetzen? Schaff ich das?“, sagt Felix. Demokratie bedeutet für ihn entsprechend: „Wie schaffe ich es, meine eigenen Ideen durchzusetzen und auch anderen Leuten gegenüber zu präsentieren?“

Der Schüler meint, dass viele, aber „nicht alle“ Jugendliche politikverdrossen oder schwer für Politik zu interessieren seien. Ihnen fehle das „demokratische Verständnis“, wie es nennt, „dass man sich engagieren muss für seine eigenen Interessen“. Felix findet es bedauerlich, dass es „leider echt viele Schüler“ gibt, „die tatenlos einfach zu sehen und sich einfach nur über andere beschweren.“ Doch Politik könne man „nicht anderen überlassen und sich dann darüber beklagen“, wie er sagt. Jeder habe eine eigene Verantwortung. Er vermute, dass für viele Jugendliche Politik „sehr fremd“ und „sehr weit entfernt“ sei, da Politiker „eigentlich nur im Fernsehen“ auftauchen und „dort irgendwas im Bundestag“ machen. Außerdem seien Fernsehsendungen mit Politikern „meistens recht langweilig für Schüler“, so dass man sich eher „spannenderen Sachen im Fernsehen“ zuwende, macht Felix deutlich. Und wenn Politiker im Fernsehen zu Wort kommen, dann machten es ihre „Phrasen“ schwer, etwas zu verstehen. Da muss „man sich erst einmal wirklich mit diesem Thema befassen“, so der Schüler. Deshalb sehe er auch die Notwendigkeit, „Schülern klar zu machen, dass man selbst erst einmal aktiv werden muss und sich selbst irgendwo einfinden muss“. Wenn man dies tue, so fährt er fort, „kommt man auch so langsam in die Thematik rein.“

Deshalb sind die Gesprächsabende mit „höheren Politikern“ oder „maßgebenden Leute in der Politik, die Sachen entscheiden“, wie sie von Felix beschrieben werden, auch so wichtig. Sie zeigen, dass es möglich sei, „mit denen ins Gespräch zu kommen und zu erfahren, dass man mit denen auch relativ locker reden kann und seine Kritik mit Politikern besprechen kann und sie auch antworten.“ Es ist möglich „demokratische Diskussionen mit ihnen führen“, so Felix weiter.

Für Martin Walter entsteht demokratisches Handeln, „wenn ich Selbstbewusstsein habe und wenn ich merke, ich kann was bewegen.“ Seine eigenen Standpunkte kundtun und sich mit anderen Standpunkten auseinander setzen können, sind für den Lehrer eine Grundvoraussetzung, „den eigenen Standpunkt handelnd durchzusetzen.“ Dinge zu hinterfragen, nachzufragen sind für Walter „Grundvoraussetzung für alles das, was in der Zukunft mit unseren Schülern passiert.“ Sie sollen „wirklich sehen: Wir können aktiv werden, wir können was machen, wir brauchen uns nicht verstecken und Angst haben vor Politik, vor der Arbeit in der Politik oder im Journalismus“, erläutert der Lehrer. Als „ein sehr positives Zeichen“ sieht Walter, dass sich einige Schülerinnen und Schüler aus dem Seminarkurs im Bereich des Journalismus beworben haben. Das zeige, so Walter, „dass wir da genau auf dem Weg sind, was demokratisches Handeln und demokratisches Agieren und Tun ausmacht.“

Auf den Anfang folgt weiteres Engagement

Bezeichnenderweise nehmen Felix und ein paar seiner Freunde am 2. Juni 2007 in Rostock an den Demonstrationen zum G8-Gipfel teil. Er findet „es schade, dass sich acht Großmächte abschotten und Sachen unter sich ausmachen.“ Für ihn sei der Protest „unterstützenswert“, da man „einen G8 Gipfel nicht unbedingt abhalten“ müsse. Felix hält stattdessen die Vereinten Nationen für „eine gute Sache“, da sie die Weltinteressen unter Beteiligung aller vertreten sollten. Der Schüler bemängelt, dass die Vereinten Nationen „nicht so ernst genommen“ und „eher außen vor gelassen, eher blockiert“ werden. „Dagegen demonstriere ich auch gerne“, schlussfolgert Felix.

Das Projekt „nachgefragt“ wird im zweiten Jahr seines Bestehens in leicht abgewandelter Form mit neun Schülerinnen und Schüler fortgesetzt. „Wir haben schon Gäste, die nächstes Jahr kommen werden“, kündigt Martin Walter an. Auch das zeigt, dass Formen und Projekte demokratischen Handelns eine Perspektive haben können und zur Weiterführung einladen. Den „Gesprächen am Rotteck“ kann man deshalb guten Erfolg wünschen!

Das Interview mit Felix Pistorius und Martin Walter führte Veit Polowy bei der Lernstatt Demokratie am 6. Juni 2007 in Jena.

Schulhomepage: http://www.rotteck.info/

Kurzdarstellung bei Demokratisch Handeln:

http://www.demokratisch-handeln.de/dh-data/show.php?id=3554

 
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