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Workshop 01 | Bericht

 

"Ich sehe was, was du nicht siehst" – Der Nahostkonflikt und seine Wahrnehmung in Deutschland.

Zwanzig Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte aus dem gesamten Bundesgebiet haben sich in dem Workshop "Ich sehe was, was du nicht siehst" mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt und insbesondere dessen Wahrnehmung in Deutschland befasst. Ausgangspunkt war die Feststellung, dass diese Auseinandersetzung für viele Menschen auch in Deutschland von großem Interesse und entsprechender Bedeutung ist.

Israel-Palästina: Ein Dauerkonflikt auch in Deutschland?

Im Vergleich zu anderen Konflikten der internationalen Politik wird der Nahostkonflikt aufmerksamer verfolgt und ist medial stark präsent. Er prägt zugleich strukturell die Nachkriegsgeschichte Deutschlands, da die Gründung des Staates Israel auf der Ebene internationaler Politik und im Kontext des Zionismus durch den Holocaust und seine Folgen nochmals erheblich beschleunigt wurde. Überdies gilt die Solidarität und Anerkennung des Staates Israel überparteilich als Teil der Staatsräson deutscher Außenpolitik. Sie wirft zugleich immer wieder die Frage auf, in welchem Maße und mit welchen Argumenten die politischen Ansprüche der Palästinenser auf einen autonomen Staat und die damit verbundene politische Unterstützung im Dauerkonflikt der unterschiedlichen Interessen zwischen dem politischen Palästina und Israel angesprochen werden können.

Einführung in den Themenkreis

In einem ersten Schritt tauschten die Teilnehmenden sich über ihre Erfahrungen hinsichtlich der Thematisierung des Nahostkonflikts in Schule, Freundes- und Familienkreis sowie den Medien aus. Zahlreiche Teilnehmerinnen und Teilnehmer merkten an, dass der Konflikt im schulischen Kontext wenig bis gar nicht thematisiert wird. Interesse sei zwar vorhanden, aber gerade für Lehrkräfte ist es z.B. angesichts der Verkürzung der Schulzeit verständlicherweise nicht immer möglich, dieses wichtige Thema neben dem regulären Kanon zu behandeln. Viele Teilnehmende äußerten den Wunsch nach einer vertiefenden Behandlung des Themas im Unterricht. Bezogen auf die Erfahrungen im Freundes- und Familienkreis beobachteten viele Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer eine extreme Polarisierung und einseitige Bewertung des Konfliktes. Dies drücke sich in der Dominanz jeweils einseitiger propalästinensischen oder proisraelischen Meinungen aus.

Daran anknüpfend wurden mögliche Gründe für die herausragende Bedeutung des Konfliktes in Deutschland zusammengetragen.  Einhellig wurden die Beziehung Deutschlands zu Israel hervorgehoben, die vor dem Hintergrund der fast vollständigen Auslöschung des europäischen Judentums durch Nazi-Deutschland einen besonderen Charakter aufweisen. Ebenso verwiesen die Teilnehmenden auf die Zunahme des internationalen Terrorismus im Gefolge der Jahrtausendwende, welcher das Augenmerk weiter auf den Konflikt richte. Zusätzlich wurde der Umstand herausgearbeitet, dass viele Menschen in Deutschland z.B. über einen arabischen Migrationshintergrund verfügen und dementsprechend familiäre Bindungen in die Krisenregion besitzen.

Ein positionales Kunst-Beispiel kritisch betrachtet: der Rap "Wie lange noch"

Im nächsten Schritt haben die Teilnehmenden anhand eines Rap-Songs eine exemplarische Sichtweise aus Deutschland auf den Konflikt näher betrachtet. Das von dem Berliner Rapper Scarabeuz komponierte Stück "Wie lange noch" verhandelt einerseits antimuslimische Diskriminierungserfahrungen, über die der ägyptisch-niederländische Künstler auch aus eigener Erfahrung berichtet. Die Teilnehmenden haben herausgearbeitet, dass in dem dazugehörigen Musikvideo eine einseitige Beurteilung des Konfliktes transportiert und ausschließlich Palästinenser und Palästinenserinnen als Opfer dargestellt werden. Eine große Rolle spielen in dem Song und dem Video Konkurrenz um Anerkennung, die der Sänger aufmacht, wenn er z.B. darauf verweist, dass bärtige Juden als Rabbis, bärtige Muslime dagegen als Terroristen diffamiert würden.

Wir erarbeiten spielerisch weitergehende Informationen

Anschließend haben die Teilnehmenden die Möglichkeit bekommen, mit Hilfe eines Quiz einige Hintergrundinformationen über den Konflikt zu erhalten. Geschichtliche Aspekte wurden ebenso aufgegriffen, wie ausgewählte aktuelle Streitthemen zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten. Ein wesentlicher Bestandteil war in dem Quiz auch der Bezug zur Öffentlichkeit und den Medien in Deutschland. Diese Aspekte dienten dazu, die Perspektive des Rappers zu erweitern und mit anderen Sichtweisen zu ergänzen. Die Teilnehmenden stellten fest, dass der Konflikt derart komplex ist, dass einseitige Sichtweisen der Tragweite der Auseinandersetzung nicht gerecht werden.

Im letzten Teil des Workshops wurde den Teilnehmenden die Gelegenheit gegeben, sich ein selbstständiges Urteil im Hinblick auf den Konflikt zu bilden und dieses zu artikulieren. Methodisch wurde dies mittel einer "Toleranzgrenze" umgesetzt, in der die Teilnehmenden einigen Aussagen aus dem Rap-Song zustimmen oder diese ablehnen sollten. Dies geschah vor allem im Hinblick auf eine wesentliche Grundbedingungen demokratischen Handelns, welche die Bildung eines eigenständigen Urteils voraussetzt und für eine multiperspektivische Sichtweise sensibilisiert.

Was bleibt?

Der Workshop war lang und intensiv. Die Teilnehmenden äußerten größtenteils ihre Zufriedenheit über Inhalte, Gestaltung und Verlauf des Workshops. Einige merkten an, dass sie erfreut darüber waren, dass im Rahmen der Lernstatt Demokratie auch dieses Thema aufgegriffen wurde. Andere betonten, dass sie nun über ein Grundgerüst an Wissen über den Konflikt verfügen, welches sie bei nächsten Gelegenheiten weiter ausbauen möchten. Die methodische Vielfalt und die Auflockerungsspiele wurden ebenso positiv hervorgehoben, wie die Atmosphäre und die Diskussionen innerhalb der Gruppe als wertschätzend und produktiv erlebt wurde.

Dass das Thema aktuell ist und bleibt, dabei gerade in Deutschland immer neue Schattierungen auslöst, zeigen derzeit beispielhaft die anhaltenden Debatte um latenten Antisemitismus in der Bundestagsfraktion der Partei "Die Linke". Dass es sich schwer in adäquate Formen einer zeitknappen Präsentation pressen lässt, belegt der noch nicht in jeder Hinsicht gelungene Versuch der Ergebnisdarstellung beim Abschluss der Lernstatt. Dass das Interesse an dem Thema virulent und anhaltend groß ist, war wiederum am intensiven Zulauf zu diesem Workshop-Angebot ablesbar, das bedauerlicherweise zu einem Missverständnis und einer Zuspitzung zwischen interessierten Erwachsenen und der jugendlichen Teilnehmerschaft geführt hat – ein Konflikt, bei dessen Auflösung wir allseitig auch nicht gerade eine glückliche Hand bewiesen haben.

War dies nicht gerade symbolpolitisch ein Ausdruck dafür, wie schnell Konflikte so komplex werden, dass einvernehmliche Lösungen kaum mehr erreichbar sind? Das spräche dafür, dieses Thema weiter auszudifferenzieren und bei künftigen Veranstaltungen der Lernstatt Demokratie einzusetzen. Denn es hilft nichts: Aufgabe der Politik im Großen wie im Kleinen ist es, Konflikte konstruktiv zu gestalten!

(M. Can/W. Beutel, Berlin/Jena im Juli 2011)

Bilder und Ergebnisse

 
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