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Demokratie als Aufgabe und Anlass in der Schule: Ein Impuls zur "Wissenslust II" in Bad Boll

Mit dem Wort von der „Wissenslust“ charakterisiert Marlies Prinzing, Journalistin aus dem württembergschen Süßen, eine Tagungsreihe in der Evangelischen Akademie Bad Boll, die zweierlei – oder darf man sagen: doppelten? – Genuss bieten will: Begegnung und Kommunikation mit interessanten Menschen einerseits soll sich mit Wissensvermittlung durch Expertinnen und Experten verbinden, die sich mit Kreativität, Intelligenz, Kommunikation und Lernen beschäftigen. In der zweiten Tagung dieser Art, bei der ganz gezielt auch Jugendliche als „Experten“ einbezogen wurden, waren auch Expertisen demokratiepädagogischer Art gefragt.

Zunächst skizzierte Marlies Prinzing in ihrer zwangsläufig summarischen und zuspitzenden Einführung ein eher polarisierendes Bild von der deutschen Bildungslandschaft. Gegenüber dem durch die PISA-Debatte und den internationalen Schulleistungsvergleich bedingten unzureichenden Eindruck von Effektivität und Qualität des deutschen Schulwesens stünden doch eine Fülle an positiven Einzelerfahrungen und interessanten Ansätzen, um Wissen, Lernen und Förderung von Begabung und Intelligenz beim einzelnen Kind und Jugendlichen zu stärken. Mit der These, „wir müssten uns nicht kollektiv in die Depression stürzen“, begründete Frau Prinzing ihren Wunsch nach Polarisierung, um damit interessante, wirkungsvolle und qualitativ gute Beiträge und Erfahrungen darzustellen, die Grenzen und offenen Fragen an das deutsche Bildungswesens und die öffentliche Meinung darüber jedoch damit nicht zuzudecken: „Himmlische Zeiten und teuflische Fallen“ sollten also aufgezeigt werden!

Himmlische Zeiten?

Unter diesem auf das Gelungene, Gute, ja das Paradiesische verweisenden Bild versammelten sich Reportagen aus der Schul- und Bildungspraxis im Südwesten der Republik. Ein Kollege aus dem Göppinger Mörike-Gymnasium wagte einen verhalten positiven Blick in das deutsche Durchschnitts-Lehrerzimmer, dem er eine besondere Bedeutung für die Psychohygiene des Seelenhaushaltes von Lehrerinnen und Lehrern attestierte. Lehrerzimmer haben eine wichtige soziale Funktion in der Gesamtfigur „Kollegium“, da es oftmals gelinge, dort Konflikte, Spannungen und Belastungen aufzufangen. Dass die Begeisterung für die alltägliche Kraft des pädagogischen Geschäftes an dieser Schule nicht sofort das Publikum insgesamt zu entflammen vermochte, lag möglicherweise an der süddeutsch zurückhaltenden Präsentationsart des Referenten – war möglicherweise aber auch einem gegenwärtig im Schulamtsbereich latent glimmenden Konflikt um Zusatzbelastungen und eine Erhöhung der Pflichtstundenzahl für die Lehrenden geschuldet.

Eindrucksvolle Darstellungen der bürgernahen und unkonventionellen Schulqualitätsberatung in der schweizerischen Stadt Baden im Kanton Aargau durch Thomas Gröbly, der Orientierung frühkindlicher Erziehung an einer Bildungs- und Lernaufgabe in den Kindertagesstätten in katholischer Trägerschaft in der Stadt Göppingen sowie eine überzeugende – geradezu ruhig-gelassene – Darstellung der Bodensee-Schule St. Martin durch ihren neuen Schulleiter wurden ergänzt durch die Vorstellung der „Pfiffikus-Akademie“ Göppingen. Dahinter verbirgt sich ein zusätzliches Bildungsangebotes im Landkreis, bei dem Schulamt und Grundschulen zusammenwirken und das auf kindliche Neugierde und selbstbezogene Lernformen setzt. Es geht dabei insbesondere um lernförderliche Angebote für Kinder mit Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, Lese-Rechtschreib-Schwäche und Dyskalkulie – aber auch um Herausforderungen für besonders interessierte Kinder.

Geboten wurde zudem eine nachdenklich stimmende Skizze zum Ansatz des neuen Hochbegabten-Zentrums des Landes Baden-Württemberg in Schwäbisch-Gmünd. Wenn man bislang unter dem Begriff der „Hochbegabte“ eine eher ausgrenzende Elitenförderung vermutet, zeigt sich heute eine Fördereinrichtung, die mit der schwierigen Herausforderung besonders lernfähiger Kinder und Jugendlicher umzugehen versteht. Gerade diese Schule steht unter dem Anspruch, Karrieren des Scheiterns sowie der motivationalen und kognitiven Verelendung im Regelschulwesen zu verhindern. Hier zeigt sich eine interessante Form der Indiviualisierung und Leistungsförderung, die immer auch – so der Referent überzeugend – soziale Arbeit und Lebensbegleitung in der Schule ist.

Inmitten dieser positiven Einzelfälle wurde auch die Grund- und Hauptschule Brigachtal-Klengen – ein langjähriger und bewährter Partner im „Förderprogramm Demokratisch Handeln“ – vorgestellt, die sich als initiativkräftige „Schule in der Gemeinde“ präsentieren konnte. Ein besondere Pfiff der dortigen umfassenden Reformschulerfahrung liegt darin, dass sich alles in einer Schule des Regelschulwesens in staatlicher Aufsicht und kommunaler Schulträgerschaft vollzieht.

Das Werk- und Vereinshaus, das auf seine Weise und von den Verantwortlichen eher unbewußt und aus alltagsvernünftigen Gründen auf die Tradition der „community education“ gründen kann, Schülerversammlung und Schüler-Sprecher-Wahlen, die Elternpartizipation und die hohe Präsenz des Kollegiums an der Schule markieren Eckpunkte einer Qualitäts-Geschichte im Südwesten des Landes. Besonders das Engagement der Schule in einem Verbund zum „Demokratischen Handeln in Schulen des Schwarzwald-Baar-Kreises“ wurde hervorgehoben. Die demokratiepädagogische Frage danach, mit welcher Einstellung, Haltung und Kompetenz zum Engagement in der Demokratie der Bundesrepublik Schülerinnen und Schüler diese Schule verlassen, sicherte ihr zusätzliche Aufmerksamkeit.

Praxisbeispiele

Die angekündigten „höllischen Zeiten“ – kritische Anmerkungen von Eltern und Kindern – mussten mangels Zeit und Präsenz entsprechender und unmittelbar betroffener Skeptiker ausfallen. Nach einer knappen Mittagspause wendet sich deshalb die „Wissenslust“ der Teilnehmerschaft drei Themenschwerpunkten in Form von Praxisbeispielen zu: Den Themenfeldern „Qualität“, „Persönlichkeit“ und „Politik“.

Thomas Schenk vom Stuttgarter Landeskultusministerium entfaltete anschaulich und lebhaft zugleich Strategien, Entwicklungsformen und Grundlagenbegriffe für „Qualitätsmanagement in der Schule“.

In Blick auf Aspekte der „Persönlichkeit“ wurden Einzelinitiativen und Förderimpulse vorgestellt, deren gemeinsames Ziel darin liegt, unmittelbare Lebens- und Entwicklungsinteressen insbesondere von Kindern und Jugendlichen aufzugreifen. Sowohl die Göppinger „Kinderakademie“ – in der Wissen und Erfahrung von Ruheständlern und älteren Mitmenschen Ausgangspunkt für Bildungsangebote (auch unterrichtsergänzend in Schulen) sind – als auch das Geislinger Kooperationsprojekt „Licht für die Lange Gasse“ zeigen verschiedene Perspektiven eines bürgerschaftlichen Engagements für das Gemeinwesen. Ist es im einen Fall der intergenerative Dialog, der zugleich eine Art „generative Praxis“ des gemeinsamen Hervorbringens und Weitergebens von Wissen und Erfahrung stiftet, so gerät im anderen Fall eine eigenständige bürgernahe Initiative zur Stadtentwicklung in den Blick.

Das Ausbildungsprojekt „Stufen zum Erfolg“ der Wirtschaftsjunioren des Landkreises setzt hingegen an einer besonders brennenden Stelle im deutschen Bildungsgefüge an, indem es Jugendlichen insbesondere aus der Hauptschule Formen und Kompetenzen zur Berufsfindung recht handfest, in kleinen Schritten und praxisnah vermitteln möchte.

Politik und Demokratie

Der Erfahrungsbericht eines jüngst gewählten Gemeinderates in einer schwäbischen Kleinstadt bezeugte in der unmittelbar wirkenden Darstellung von Marco Zeller eine Fülle an Motiven und Entscheidungsgründen für die Politik – die in der Wissenschaft von der Politik möglicherweise so gar nicht präsent sind. Sowohl die Einbindung in das Sozialleben einer größeren Freundesgruppe als auch insbesondere die Verantwortungsnahme in der Kirche waren ihm bedeutende Faktoren für das Politische. „Oberministrant zu sein, ist eine Art Jugendarbeit...“, so Zeller, und erweist sich als Schlüssel zur Interessenvertretung Jugendlicher in der Kommune, die durchaus professionellen Gesichtspunkten folgt und von der Wahrnehmung geprägt wird, „... dass im Gemeinderat die Interessen Jugendlicher sehr wohl ein offenes Ohr finden“.

Aus einem Geislinger Gymnasium berichten die Schüler André Knaus und Stefanie Rauer von der schwierigen Arbeit im Jugendgemeinderat und der anhaltenden Herausforderung, aus der friedensbewegten Mutlanger Tradition heraus auf internationaler Jugendebene an den Bann der trotz Systemtransformation in Osteuropa immer noch vorhandenen massiven Bedrohung der Welt durch Atomrüstung zu erinnern.

Eingeleitet wurden diese Praxisbeispiele durch eine Skizze der Erfahrungen, Ergebnisse und Arbeitsformen des demokratiepädagogischen Ansatzes im bundesweiten Wettbewerb „Förderprogramm Demokratisch Handeln“. Die stark auf Herausforderungen und Aufgaben der demokratischen Öffentlichkeit zentrierten Zugänge dieses Programms zu Schule, Jugendarbeit und politisch-demokratischer Erziehung im weiteren Sinne fanden in diesem Umfeld durchaus offene Ohren und boten so etwas wie einen synthetisiernd-integrierenden Rahmen für die Vielfalt der vorgestellten Erfahrungen.

Fernseher oder Oma zur Kinderbetreuung? Neurowissenschaft bietet Antworten

Das dichte Nachmittagsprogramm ging nach nur kurzer Verschnaufpause in einen Vortrag des prominenten Ulmer Neurowissenschaftlers Manfred Spitzer über. Mit Anschaulichkeit, einer gewissen Drastik der Formulierung und einer häufig zugespitzten, oftmals witzigen Darstellungsform gelang es Spitzer, das zwischenzeitlich durch zahlreiche weitere Gäste gefüllte Auditorium in seinen Bann zu ziehen.

Dass Lernen stark entwicklungsabhängig ist, zugleich keinesfalls einem einfachen Steigerungs- und nachfolgenden Abfolgebogen um das Zentrum der Lebensmitte folgt, konnte Spitzer einleuchtend darlegen. Einzelheiten zur Landkarte „kognitiver Repräsentationen“ und zum biologischen Abbild von Lernen im menschlichen Gehirn wurden transparent. Berechtigt war der Hinweis auf die fatale Auswirkung sich ständig wiederholender Gewaltpräsentation in den Medien gegenüber Kindern und Jugendlichen – aber „predigt hier nicht erneut ein Pfarrer vor den bereits überzeugten und einsichtigen Mitgliedern der Gemeinde“, so fragte man sich? Wie können den diese Einsichten in öffentlichkeitswirksame Regulative und Qualitätskriterien für eine an Bildung und Sozialisationsfunktionen überzeugte und interessierte Medienwelt übersetzt werden – diese Frage blieb undiskutiert und offen!

Auch so manche Pointe auf Kosten pädagogischen Denkens zeigt die Grenzen einer neurobiologischen Sichtweise auf menschliches Handeln und Lernen. Der Eindruck eines dort vorherreschenden biologisch-deterministischen Denkens konnte beim Zuhörer durchaus entstehen, beispielsweise dadurch, dass „freie Arbeit in der Schule“ nach Spitzer immer dann ist, „wenn man reinkommt und nicht weiß, wird gearbeitet oder ist schon Pause“. Vielleicht war das auch nur ein schneller Witz auf Kosten einer Sache, die – professionell gehandhabt – Antwortperspektiven auch vor dem Hintergrund der ganz aktuellen PISA 2003-Länderergebnisse verspricht.

Doch insgesamt war die Einführung in das neurokognitive Wissen und Forschen sicher eine Hilfe zum Verstehen und zur besseren Organisieren von Lernen, Bildung und damit letztlich auch von „Wissenslust“. Ob denn nun „die Oma oder der Fernseher die bessere Aufsicht über die Kinder am Abend biete“ sei keine Frage der Ansicht, sondern der Einsicht: „Die Neurowissenschaften wissen es“, so schloss Spitzer seinen Impuls zu dieser Tagung – auf die er  im konkreten allerdings in keinem Wort einzugehen wusste.

Dennoch: die Teilnehmerschaft ging mit einem reichen und vielfältige Aspekte bedenkenden und präsentierenden Programm bereichert aus dieser Veranstaltung. Das Wissen und Lust zusammen hängen können – gerade auch heute in der Bundesrepublik – ist vielfältig sichtbar geworden, denn die Praxis in Schule, Jugendarbeit und Erwachsenenbildung bietet weit mehr, als gemeinhin bekannt ist oder unterstellt wird. Wenn „Wissenslust III“ stattfinden sollte, ist der Tagung mehr Ruhe und etwas weniger Hektik sowie eine größere öffentliche Resonanz zu wünschen. Denn eines wurde auch sichtbar: Wer bietet heute schon derart vielseitige und bunte Sträuße praxiswirksamer Bildungsangebote an, wie sie hier geboten worden sind? (Wolfgang Beutel, Jena 11/2005)

 
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